Allgemeines Strafrecht

Raser-Fall in Hagen (Tag 3)

Am dritten Hauptverhandlungstag wurde zunächst die Ehefrau des älteren Angeklagten als Zeugin gehört. Zur Erinnerung: Der Angeklagte gab in einer Einlassung in der ersten Sitzung an, er habe einen Anruf von seiner Frau bekommen, die über starke krankheitsbedingte Anfälle bei ihrem Sohn berichtet habe. Deshalb sei er in Panik geraten und habe sich zügig auf den Heimweg gemacht, um das Kind zu beruhigen und ins Krankenhaus zu bringen. Bei dieser schnellen Fahrt sei es schließlich zum Unfall gekommen. Die Ehefrau verzichtete auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht und schilderte – zum Teil unter Tränen – die verzweifelte Situation am Abend des Geschehens. Sie hatte sich trotz der Anfälle sofort mit dem Kind zum Unfallort begeben, nachdem sie von ihrem Mann darüber telefonisch informiert worden war. Der „vaterfixierte“ Sohn habe sich „weggeschrien“, als er seinen Vater im Unfallwagen sah. Die Ehefrau – mittlerweile leben die Eheleute getrennt – bestätigte in wesentlichen Teilen die Einlassung des Angeklagten. Ebenso wurde dem Gericht eine Bestätigung über die Krankenhausbehandlung des Kindes vorgelegt. Die Richter dürften mittlerweile überzeugt davon sein, dass die Einlassung des Angeklagten keine „Ausrede“ war, sondern tatsächlich seine konkrete Situation und Motivation beschrieb. Dass die Angaben in der ersten Sitzung nun häppchenweise durch andere Beweise an weiteren Hauptverhandlungstagen untermauert werden, scheint eine Taktik der Verteidigung zu sein, diese entlastenden Momente über den ganzen Prozess zu streuen, um die daraus erwachsene psychologische Wirkung auf die Richter (darunter zwei Schöffen) optimal zur Entfaltung zu bringen. So kann man davon ausgehen, dass in einer der letzten beiden angesetzten Sitzungen auch der angekündigte Nachweis über die Telefonverbindung vorgelegt wird.

Anschließend trat der Polizeibeamte erneut in den Zeugenstand, den die Lebensgefährtin des jüngeren Angeklagten massiv beschuldigt hatte, eine unlautere Vernehmungsart gepflegt zu haben. Der Zeuge stritt diese Beschuldigungen ab; insbesondere könne er nicht mit der Faust auf den Tisch geschlagen haben, da dieser schon von seinem PC und weiteren Akten weitgehend bedeckt werde und daher schlicht zu klein dafür sei. In keinem Falle sei es sein Stil, die Zeugen einzuschüchtern. Die entsprechenden Schilderungen der Zeugin werden wohl folgenlos für den Prozess bleiben.

Den Schwerpunkt des dritten Verhandlungstags bildeten schließlich die Ausführungen des Sachverständigen zum Unfallgeschehen. Dabei erfuhr man so einiges Interessantes am Rande, so beispielsweise den Umstand, dass der kleine Skoda 170 PS (Audi A6 des jüngeren Angeklagten: 232 PS) stark war und vom älteren Angeklagten mit äußerst ausgeprägtem Interesse für Autotuning „aufgepeppt“ wurde. In jedem Falle waren beide Autos in einem technisch mangelfreien Zustand, so dass eine diesbezügliche Ursächlichkeit ausscheiden dürfte. Etwaige relevante Daten über die Geschwindigkeit zum Unfallzeitpunkt konnten aus den noch funktionstüchtigen Steuergeräten des Skodas nicht herausgelesen werden.

Zum Schluss wurde noch die Dashcam-Aufnahme erneut vorgespielt und sachverständig analysiert. Dabei bestätigte sich auch beim zweiten, genaueren Blick auf die Sequenzen der Eindruck von der ersten Sitzung, dass die Annahme eines abgesprochenen Rennens nicht haltbar ist: Zwischen dem Halt an der Ampelanlage, wo die beiden Autos zum ersten Mal nebeneinanderstehen, und dem Losfahren bei Grün vergehen nur einige wenige Sekunden. Worauf die Staatsanwaltschaft ihren Vorwurf gründet, die beiden Angeklagten hätten spontan ein Rennen verabredetet und dieses um „jeden Preis“ gewinnen wollen, bleibt im Dunkeln. Ja, es war eine unverantwortliche Raserfahrt, ohne Zweifel. Aber nein, es war kein illegales Straßenrennen, so meine verfestigte Einschätzung.

Eine weiterhin spannende Frage bleibt, wie schnell die Angeklagten fuhren, als es zur Kollision kam. Die Werte aus der Dashcam-Aufnahme seien für Geschwindigkeitsberechnungen unbrauchbar, so der Sachverständige. Er rechnete vielmehr vor, dass die Strecke vom Nullpunkt des Losfahrens an der Ampelanlage bis zu der letzten auf der Dashcam-Aufnahme sichtbaren Stelle etwa 400 Meter lang sei und man bei einer Beschleunigung von 0,8-0,9 m/s2 etwa 100 km/h schnell sein würde, wenn man am Endpunkt angekommen ist. Jedoch könnten beide Autos unter idealen Umständen bei vollem Motoreinsatz eine mittlere Beschleunigung von 3,0 bis 3,5 m/s2 erreichen. Daraus folgt, dass eine sehr viel höhere Geschwindigkeit als die von der Staatsanwaltschaft angenommene von etwa 100 km/h möglich erscheint, zumal der konkrete Unfallort noch etwa 150 Meter weiter entfernt liegt und es dort bergab geht. Sollten die Angeklagten also das Gaspedal durchgetreten haben, um die maximale Geschwindigkeit herauszuholen, waren sie in ihren PS-starken Autos mit Automatikgetriebe in jedem Falle schneller unterwegs als von der Anklage angenommen. Mit Blick auf das Fehlen von belastbaren Messwerten aus der Dashcam-Aufnahme sowie den Steuergeräten wird man aber bei der Würdigung von solchen Berechnungen vom Grundsatz „in dubio pro reo“ ausgehen müssen. Am kommenden Sitzungstag werden die Sachverständigen über ihre weiteren Erkenntnisse berichten, insbesondere über mögliche Folgerungen aus ihrer Kollisionsanalyse.

 

Bild: Osman Isfen