Allgemeines Strafrecht

Raser-Fall in Hagen (Tag 1)

Der Vorwurf der Anklage – spontan verabredetes, illegales Straßenrennen, in dessen Verlauf einer der Angeklagten mit hoher Geschwindigkeit in den Gegenverkehr geriet, mit mehreren entgegenkommenden Fahrzeugen kollidierte und es dadurch zu teils lebensgefährlichen Verletzungen der Geschädigten kam – ließ schon im Vorfeld des Verfahrens die Frage im Raum stehen, ob nach Berlin nunmehr auch in Hagen ein weiteres Urteil wegen (versuchten) Mordes in einem Raser-Fall gefällt werden könnte. Die kurz zuvor erfolgte Veröffentlichung der schriftlichen Urteilsgründe im Ku’damm-Fall lieferte hierfür eine spannende Vergleichsgrundlage. Doch nach dem ersten Prozesstag vor dem Landgericht Hagen sieht es so aus, als ob die Annahme eines vorsätzlichen (versuchten) Tötungsdelikts nicht zur Diskussion stehen wird.

Der Prozess fing zunächst schleppend an. Da eine der Schöffinnen zum Verhandlungsbeginn um 9.00 Uhr nicht erschien (sie soll sich einige Wochen zuvor bei der Geschäftsstelle wegen ihrer Ausbildungsverpflichtungen entschuldigt haben), bemühte sich die 6. Große Strafkammer um einen Ergänzungsschöffen, der erst nach einer Stunde eintreffen konnte. Erwartungsgemäß stellte die Verteidigung daraufhin den stattgegebenen Antrag, das Verfahren zur Prüfung der vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts für anderthalb Stunden zu unterbrechen. Nach dieser behäbigen Anfangsphase verlas der Staatsanwalt die Anklageschrift. Dort geht es im Kern um den Vorwurf der Gefährdung des Straßenverkehrs (vorsätzliche Handlung und fahrlässige Gefährdung, § 315 c StGB) in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in mehreren Fällen (§ 229 StGB). Die beiden Angeklagten sollen sich an der Ampel spontan verabredet haben, ein Rennen in der Innenstadt unweit von der FernUniversität durchzuführen, in dessen Verlauf es zum besagten Unfall gekommen ist. “Sie wollten das Rennen um jeden Preis gewinnen”, so der Staatsanwalt.

Während einer der Angeklagten, dem drei Verteidiger beistehen, es vorzog, zunächst zu schweigen, ließ sich der ältere Angeklagte mit zwei Verteidigern zur Sache ein. Er sei auf dem Rückweg nach Hause gewesen und habe einen Anruf von seiner Frau bekommen, dass es dem 11-jährigen gemeinsamen Sohn schlecht ginge; dieser habe plötzlich wilde Zuckungen gehabt und unter Atemnot gelitten, was öfters vorgekommen sei. Da er ein besonders inniges Verhältnis zu seinem Sohn habe und diesen in solchen Situationen beruhigen könne, habe er schnell zu Hause sein wollen. Insgesamt sei er in totaler Panikstimmung gewesen. Da die Ampel an der Hoheleye zunächst rot gewesen sei, sei er langsam auf diese zugerollt und habe, als diese auf Grün umsprang, zügig beschleunigt. Dann erinnere er sich nur noch, wie er kurze Zeit später einen Schatten wahrgenommen habe. Der andere Angeklagte, den er vorher nicht gekannt habe, habe ihn von rechts überholt und seinen Wagen auf die linke Fahrbahn gelenkt. Daraufhin habe er gebremst und das Lenkrad verrissen; an weitere Einzelheiten des Zusammenstoßes mit dem Gegenverkehr könne er sich nicht erinnern.

Nach meinem Eindruck ließen das Gericht und die Staatsanwaltschaft – jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt – eine gewisse kritische Haltung gegenüber dieser Einlassung vermissen. So wäre es geboten gewesen, der Frage entschiedener nachzugehen, ob es ein solches Telefongespräch zwischen dem Angeklagten und seiner Frau tatsächlich gegeben hat. Zu denken ist etwa an einen eventuell (noch) vorhandenen Verbindungsnachweis, der nähere Details des vorgegebenen Gesprächs verifizieren könnte. Ebenso weiterführend wäre die Vorlage einer Bestätigung, falls der Sohn nach diesem Anfall ärztlich behandelt worden sein sollte. In jedem Fall wird die Frau des Angeklagten (wohl nicht unbedingt noch zusätzlich der 11-jährige Sohn) zum Geschehen befragt werden müssen.

Wesentlich aufschlussreicher als die Einlassung des älteren Angeklagten war eine Dashcam-Aufnahme, die ein pensionierter Polizeibeamter, aus persönlichem Interesse an Oldtimern, Landschaften und der Gestaltung von Kurven und Straßen, zufälligerweise gemacht und diese den Behörden zur Verfügung gestellt hatte. Auch widersprach die Verteidigung erwartungsgemäß der Inaugenscheinnahme und der Verwertung dieses Beweismittels, da es wegen dauerhafter und anlassloser Aufzeichnung des Straßenverkehrs nicht im Einklang mit § 6 b BDSG stehe. Mit Blick auf die zahlreiche OLG-Rechtsprechung zu dieser Thematik verwunderte es nicht, dass die Kammer diese Bedenken nach kurzer Beratung zurückwies. Die Aufnahme zeigt im Kern, dass der jüngere, bisher schweigende Angeklagte zunächst den Ex-Polizisten mit sichtlich erhöhter Geschwindigkeit auf der rechten Fahrspur überholt, aber an der darauffolgenden Ampelanlage seitlich von ihm hält. Im entscheidenden Moment sind die beiden Wagen der Angeklagten an der Ampel an der Hoheleye nebeneinander zu sehen. Allerdings kann der Sequenz nach meinem Dafürhalten keine spontane Verabredung zu einem illegalen Straßenrennen entnommen werden: Bei der relativ kurzen Wartezeit und dem Fehlen eines Anzeichens für eine Kommunikation zwischen den beiden Angeklagten wäre es eine unzulässige Überdehnung des Geschehens, diesem eine solche Verabredung unterzuschieben. Zwar fahren beide bei grün sehr zügig an (allerdings nach Angaben des Zeugen ohne quietschende Reifen) und entwickeln dem äußeren Anschein nach durchaus eine Ambition, schneller als der andere sein zu wollen. Doch daraus folgt schon lange kein gemeinschaftlich in Angriff genommenes Straßenrennen. Leider zeigt die Aufnahme nicht das konkrete Unfallgeschehen, weil sich die beiden Wagen mit äußerst beachtlicher Geschwindigkeit vom S-Klasse-Mercedes 320 des pensionierten Polizeibeamten entfernen und der geographische Verlauf der Straße die weitere Sicht versperrt. Einige Sekunden später kommt es dann um Unfall.

Am 1.6.2017 wird das Verfahren fortgesetzt. Dabei dürften vor allem die Aussagen der Gutachter von besonderem Interesse sein. Aus rechtlicher Sicht kann nach dem Ergebnis des ersten Tages festgehalten werden, dass eine vorsätzliche Tötungshandlung der Angeklagten derzeit nicht naheliegend erscheint. Zwar setzt eine solche Annahme nicht unbedingt ein gemeinschaftliches Straßenrennen voraus; auch ein Einzelfahrer vermag nach den Kriterien der Berliner Ku’damm-Entscheidung (deren Bestätigung durch den Bundesgerichtshof nicht ausgemacht erscheint) grundsätzlich mit bedingtem Vorsatz handeln, wenn er eine Fahrweise wie die in Berlin an den Tag legt (160-170 km/h in einer hochfrequentierten Innenstadtgegend; Überfahren von mehreren roten Ampeln). Allerdings wird man selbst beim augenscheinlich aggressiver fahrenden jüngeren Angeklagten diese Voraussetzungen nicht als erfüllt ansehen. Insoweit fragt sich, welche Indizien im vorliegenden Fall (im Unterschied zum Berliner-Fall: Fehlen eines gemeinsamen Tatentschlusses zu einem Straßenrennen; Einhaltung der Ampelgebote; deutlich kürzere „Rennstrecke“ und -dauer; geringere Geschwindigkeit von etwa 100 km/h) herangezogen werden können, um eine Abweichung von dem in solchen Konstellationen vorliegenden Regelfall der bewussten Fahrlässigkeit zu begründen und für das Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes zu plädieren.

 

Bild: Osman Isfen