Allgemeines Strafrecht

Raser-Fall in Hagen (Tag 5 – Entscheidung)

Der fünfte und letzte Verhandlungstag im Hagener Raser-Prozess stand ausschließlich im Lichte der Plädoyers und der Urteilsverkündung. Zu Beginn betonte der Vertreter der Staatsanwaltschaft, dass es bei diesem Verfahren trotz des medialen Interesses und der emotional beladenen Momente sehr sachlich zuging, und bedankte sich bei den anderen Beteiligten. Ebenso stellte er kurz und knapp fest, dass entgegen der Anklageschrift ein spontan verabredetes, gemeinsames Straßenrennen nicht feststellbar gewesen sei. Auf beide Punkte hatte ich im Vorfeld bereits hingewiesen. Im Grunde konnte man schon am ersten Tag davon ausgehen, dass die Annahme eines illegalen Straßenrennens nicht haltbar sein würde: Weder die Dashcam-Aufnahme noch die Zeugenaussagen hatten einen solchen Vorgang belegt. Insgesamt legte die Anklage zu Gunsten der Angeklagten eine Geschwindigkeit von 80 km/h zugrunde (von Sachverständigen war eine Spanne von 80 bis 120 km/h angegeben worden), was natürlich dazu führte, dass sich dadurch auch der Vorwurf des „Rasens“ erheblich relativierte. Ebenso war die Aussage des Sachverständigen am vierten Verhandlungstag zu berücksichtigen, wonach die technische Ausstattung der beiden Autos eine deutlich schnellere Beschleunigung erlaubt hätte als wohl tatsächlich erfolgt war.

Dennoch: Die Sequenzen der Dashcam-Aufnahme, die die äußerst zügige Beschleunigung der beiden Autos zeigen – sie waren auf einer Strecke von etwa 400 Metern innerhalb weniger Sekunden nicht mehr im Sichtfeld der S-Klasse, die ihrerseits rasch die erlaubte Geschwindigkeit von 50 km/h erreichte -, legen für einen unvoreingenommenen Betrachter, der die Frage der Gerichtsverwertbarkeit der Dashcam-Aufnahme erst einmal zur Seite legt, die Annahme deutlich nahe, dass die Angeklagten mit erheblich mehr als den zu ihren Gunsten zugrunde gelegten 80 km/h gefahren sein mussten. Jedoch kann dieser “gesunde Menschenblick” nicht ausschlaggebend für die gerichtliche Entscheidungsfindung sein; vielmehr sind Richter nach dem Grundsatz “Im Zweifel für den Angeklagten” angehalten, die von der für die Angeklagten günstigsten Tatvariante auszugehen. Und dabei kommt man an den Feststellungen der Sachverständigen schlicht nicht vorbei. Allerdings bleibe ich bei meiner Auffassung, dass sich mir nicht erschließt, warum eine Auswertung des Airbag-Steuergeräts – analog zum Berliner Fall – nicht vorgenommen wurde. Im Gespräch mit dem dort tätigen Sachverständigen bestätigte mir dieser, dass sich aus den im Steuergerät gespeicherten Daten im Regelfall die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt der Airbag-Auslösung berechnen ließe. Hierzu wurden, soweit mir ersichtlich, keine Ausführungen im Hagener-Prozess gemacht. Eine Lektüre des Berliner Urteils hätte zumindest eine diesbezügliche Nachfrage bei den Sachverständigen nahegelegt.

Der Vertreter der Staatsanwaltschaft sah beim älteren Angeklagten – dem Skoda-Fahrer, der sich beim Zusammenstoß mit den beiden Autos aus dem Gegenverkehr ebenfalls erheblich verletzt hatte – lediglich den Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) als erfüllt an; dafür plädierte er auf eine Freiheitsstrafe von 9 Monaten auf Bewährung (daneben Entzug der Fahrerlaubnis und Anordnung einer Wiedererteilungssperre). Dabei berücksichtigte er – wie später auch das Gericht –, dass er sich zum Zeitpunkt der Fahrt in einer emotionalen Ausnahmesituation wegen seines plötzlich unter Atemnot leidenden Sohnes befand, er nicht vorbestraft war, auch das Verkehrszentralregister keine Eintragungen aufwies, er beim Unfall selbst erheblich verletzt wurde und es dadurch auch zu nachteiligen finanziellen, beruflichen und persönlich-familiären Auswirkungen bei ihm gekommen war. Beim jüngeren Angeklagten kam nach Ansicht der Anklagebehörde zusätzlich eine Straßenverkehrsgefährdung nach § 315 c StGB in Form einer Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination (falsches Überholen) in Betracht sowie ferner ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB), was zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten (daneben Entzug der Fahrerlaubnis und Anordnung einer Wiedererteilungssperre) führen sollte. Zu Lasten des Angeklagten fielen seine, wenn auch nicht einschlägigen, strafrechtlichen Vorverurteilungen sowie zwei Eintragungen im Verkehrszentralregister, eine davon wegen Geschwindigkeitsüberschreitung von 36 km/h, und zwar nach dem Unfallgeschehen. Ihm wurde hingegen zu Gute gehalten, dass er nach dem Unfall sofort erste Hilfe geleistet hatte, auch wenn er sich dort nicht als Unfallbeteiligter, sondern als Zeuge ausgab.

Das anschließende Plädoyer der Nebenklage bejahte entgegen der Staatsanwaltschaft das Vorliegen eines verabredeten und gemeinsam in Szene gesetzten Straßenrennens. Der Nebenklagevertreter schloss sich „der guten Sitte entsprechend“ den Anträgen der Staatsanwaltschaft an, betonte aber die aus seiner Sicht bestehende Notwendigkeit auf eine harte Bestrafung im Sinne einer Zeichensetzung. Nur an dieser Stelle erfolgte im ganzen Prozess eine offene Bezugnahme auf die ersichtlich anders gelegenen Fälle in Berlin, Köln und jüngst in Mönchengladbach.

Für den älteren Angeklagten sprach nur einer seiner beiden Verteidiger. Auch dieser bedankte sich für die sachliche Prozessführung und machte gleichzeitig deutlich, dass der hiesige Fall mit den anderen erwähnten Raserverfahren nicht vergleichbar sei. Bei der Beurteilung der Verantwortlichkeit seines Mandanten müsse berücksichtigt werden, dass er gar nicht anders hätte handeln können. Er sah eine deutlich mildere Strafe als angemessen an, stellte deren Höhe allerdings ins Ermessen des Gerichts.

Für den jüngeren Angeklagten sprachen alle drei seiner Verteidiger. Der erste Verteidiger versuchte zunächst darzulegen, dass das Gerechtigkeitsempfinden und die Subsumtion eines Verhaltens unter die Normen des Strafgesetzbuchs nicht immer einen Gleichlauf hätten. Die von ihm hierfür herangezogenen Fälle aus dem Bereich der Sterbehilfe schienen aber etwas deplatziert zu sein, da sie keine Parallelen zum vorliegenden Sachverhalt aufweisen. Anschließend konzentrierten sich seine Ausführungen auf den Nachweis der fehlenden Kausalität und der objektiven Zurechenbarkeit. Die Anwesenden durften dabei erfahren, dass an Universitäten gelehrt wird, dass die Kausalität nach der conditio-sine-qua-non-Formel einer Einschränkung bedarf, da man sonst auch den Zeugungsakt des späteren Mörders als kausalrelevant ansehen könnte. Die Verneinung der objektiven Zurechenbarkeit führte der Verteidiger auf fehlende Schutzzweckzusammenhänge zurück. Der zweite Verteidiger griff – aus Sicht des Angeklagten völlig konsequent und berechtigt – die zugrunde gelegte Geschwindigkeit von 80 km/h als Verteidigungselement auf und führte aus, das sei nicht einmal eine Geschwindigkeit gewesen, die mit einem Fahrverbot hätte geahndet werden können. Letztlich sei der Unfall darauf zurückzuführen, dass der ältere Angeklagte, aus welchem Grunde auch immer, abgelenkt gewesen war und in den Gegenverkehr geriet. Der jüngere Angeklagte habe hierzu überhaupt keinen Beitrag geleistet. Insgesamt plädierte dessen Verteidigung auf Freispruch auf ganzer Linie.

In seinen letzten Worten bedauerte der ältere Angeklagte erneut sein Verhalten und entschuldigte sich nochmals persönlich, dieses Mal beim anwesenden Vater der beiden verletzten Kinder. Der jüngere Angeklagte schloss sich den Ausführungen seiner Verteidiger an. Auch er entschuldigte sich – zum ersten Mal im Prozess persönlich, innerlich offensichtlich äußerst berührt und den Tränen nah – beim Familienvater, bevor ihm sein Verteidiger das Mikrofon schnell ausschaltete. Insgesamt musste der jüngere Angeklagte während des ganzen Prozesses der Verteidigungstaktik folgend fast durchgehend schweigen, was ihm anscheinend emotional erheblich zugesetzt hat. Die persönlichen Schicksale der Geschädigten haben ihn offenkundig nicht kalt gelassen.

Nach einer etwa dreieinhalbstündigen Beratung verkündete die Kammer schließlich ihr Urteil. Für den älteren Angeklagten erkannte sie wegen fahrlässiger Körperverletzung auf eine Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung zuzüglich des Entzugs der Fahrerlaubnis und der Anordnung einer Wiedererteilungssperre. Der jüngere Angeklagte wurde hingegen ebenfalls für fahrlässige Körperverletzung sowie zusätzlich wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten zuzüglich des Entzugs der Fahrerlaubnis und der Anordnung einer Wiedererteilungssperre verurteilt. Das Gericht setzte aber bei ihm die Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung aus, da es eine positive Sozialprognose nicht erkennen konnte.

In ihrer Urteilsbegründung zitierte die Kammer eingangs das Berliner Gericht mit dessen Hinweis auf die ausschlaggebende Bedeutung der Einzelfallbetrachtung. Dementsprechend ließ sie sich auf eine abgrenzende Auseinandersetzung mit der Berliner Entscheidung nicht ein. So ganz konnte das ihr aber letztlich doch nicht gelingen: Die Vorsitzende führte zu Beginn aus, dass ein Körperverletzungsvorsatz nicht anzunehmen sei. Darauf hätte sie gar nicht eingehen müssen, da die betreffenden Delikte weder angeklagt waren noch nach einem rechtlichen Hinweis des Gerichts zum Gegenstand der Verhandlung gemacht wurden. Auch wenn im Ergebnis die Auffassung der Vorsitzenden zutreffend ist, dass im konkreten Sachverhalt keine Anhaltspunkte für einen Körperverletzungsvorsatz feststellbar waren, so ist ihre lapidare Begründung dennoch nicht frei von Angriffsflächen: „Wer sich morgens in ein Auto setzt, möchte nicht, dass er am Ende des Tages im Krankenhaus landet“. Diese Annahme mag durchgehend zutreffend sein, steht aber der Bejahung eines bedingten Vorsatzes nicht per se entgegen, denn in der BGH-Rechtsprechung ist zutreffend anerkannt, dass mit dolus eventualis handelt, wer den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und damit in der Weise einverstanden ist, dass er die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf nimmt oder sich um des erstrebten Zieles willen wenigstens mit ihr abfindet, mag ihm auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein (BGHSt 36, 1, 9 f.; BGH NJW 1999, 2533, 2534). Es spricht im Ausgangspunkt nichts dagegen, dieses erweiternde Merkmal auch bei selbstverletzenden Vorgängen heranzuziehen, auch wenn dies nur in emotionalen Ausnahmesituationen akut werden dürfte, zu denen allerdings ein um jeden Preis zu gewinnendes Autorennen durchaus gezählt werden kann. Die Vorsatzverneinung darf daher nicht so pauschal auf der Ebene der Unerwünschtheit eigener Verletzungen stehen bleiben, sondern muss sich auf weitere Indizien für die Hoffnung auf einen guten Ausgang stützen (generell kritisch zur Annahme eines Körperverletzungs- bzw. Tötungsvorsatzes Walter NJW 2017, 1350, 1351 sowie Schuster in seiner Stellungnahme, S. 3, zu neuen “Raser-Vorschriften”)

Das Gericht verurteilte die beiden Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung und sprach sie insofern vom Vorwurf der Straßenverkehrsgefährdung frei. Nach Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe wird man in der Lage sein, sich mit der näheren Begründung des von der ursprünglichen Anklage und dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft abweichenden Schuld- und Strafausspruchs auseinanderzusetzen. Das letzte Wort dürfte übrigens heute nicht gesprochen worden sein, da zu erwarten ist, dass zumindest der jüngere Angeklagte in Revision gehen wird.

Als Quintessenz lässt sich festhalten, dass das Hagener Landgericht eine am konkreten Fall orientierte Entscheidung gefällt hat, die die Besonderheiten des abzuurteilenden Sachverhalts stets im Blick behält. Wer dem Schrei nach härterer Strafe folgend ein „zweites Warnsignal“ nach dem Berliner Urteil erwartet hatte, wurde zu Recht enttäuscht. Dennoch scheint es nicht ausgeschlossen zu sein, dass aus Sicht der völlig unschuldigen Geschädigten die Frage gefühlsmäßig in den Raum gestellt wird: Befriedigt mich dieses Urteil? Wenn der kleine Dennis, der schwer verletzt mehrere Tage im Koma lag und dessen Körper ein ganzes Leben Spuren vom Geschehen tragen wird, in den Spiegel schaut und sich jedes Mal damit abfinden muss, dass diese Narben nie weggehen werden, oder wenn der hilflosen Mutter jedes Mal die Bilder hochkommen, wie das aus dem Mund blutende Kind auf dem Boden liegt, sie ihren womöglich gerade sterbenden Jungen vielleicht zum letzten Mal sieht und sich permanent fragt, wo der verdammte Krankenwagen endlich bleibt … Das heute gefällte Urteil kann diese Momente nicht auslöschen; es ist dafür auch nicht geschaffen. Allerdings kann ein solcher sachlicher Prozess, begleitet von aufrichtigen Bemühungen der Angeklagten um Entschuldigung für ihr Fehlverhalten, erheblich dazu beitragen, dass langsam, aber sicher Ruhe einkehrt, wenn auch kein rechter innerer Friede. Wenn es so kommen sollte, dann hätte der Strafprozess in diesem Fall seine Aufgabe erfüllt. (Update: Am Tag nach dem Urteil ist der Presse zu entnehmen, dass die Familie der verletzten Kinder offenbar keine Akzeptanzprobleme mit der Entscheidung des Gerichts haben wird: “Aus meiner Sicht geht das Urteil in Ordnung. Für meine Familie und mich ist es wichtig, dass wir jetzt endlich zur Ruhe kommen können”, so der Vater. Zu der aufrichtigen Entschuldigung des älteren Angeklagten sagte er: “Jeder Mensch macht Fehler. Er steht zu seinen Fehlern … Das heißt nicht, dass ich sein Verhalten entschuldige. Aber ich rechne ihm an, dass er seinen Fehler eingesteht.“)

 

Bild: Osman Isfen