Allgemeines Strafrecht

Raser-Fall in Hagen (Tag 2)

Der zweite Prozesstag im Hagener Raser-Fall begann mit der Vernehmung der Lebensgefährtin des jüngeren Angeklagten, die bei der Unfallfahrt mit im Auto saß. Vorweg: Die zu Beginn der Hauptverhandlung vermisste kritische Haltung gegenüber der Einlassung der Prozessbeteiligten wich dieses Mal einer intensiven Durchdringung des Sachverhalts, im Zuge derer die Zeugin teilweise ins Trudeln geriet. Im Kern soll sich das Unfallgeschehen so abgespielt haben, dass der Angeklagte einem vom rechten Straßenrand anfahrenden Smart ausweichen wollte und deshalb das Lenkrad zur Seite riss, ohne allerdings die Spur zu verlassen. Vor Schreck habe sie in Erwartung einer Kollision weggeschaut und dabei im Außenspiegel der Fahrerseite sehen können, dass hinter ihnen ein rotes Auto ins Schlingern kam, in den Gegenverkehr geriet und schließlich den besagten Unfall verursachte.

In Bezug auf diesen roten Wagen, mit dem nach Ansicht der Anklage das illegale Straßenrennen stattgefunden haben soll, hatte sich die Zeugin in ihrer polizeilichen Vernehmung abweichend von der heutigen geäußert. Damals erklärte sie, dass sie während der Fahrt nach hinten geschaut und dabei bemerkt habe, dass der Skoda „aufholen wollte“. Im Zeugenstand wollte sie aber nur auffällige Motorgeräusche von hinten wahrgenommen haben; von einem Aufholen im Sinne einer rennähnlichen Situation war keine Rede mehr. Ohnehin seien sie und ihr angeklagter Lebensgefährte viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, weil sie sich am Tag zuvor gestritten hätten. Auf die auffällige Unstimmigkeit zwischen der früheren und der jetzigen Aussage angesprochen, sagte sie, dass auch sie beim Durchlesen ihrer Aussage bei der Polizei „über diese Passage gestolpert“ sei.

In diesem Moment wurde es aus strafprozessualer Sicht äußerst interessant. Die Zeugin betonte nach Vorhalt dieser Unstimmigkeit mehrmals, dass ihre Aussage bei der Polizei „unschön verlaufen“ sei. Der vernehmende Polizeibeamte habe „großen Druck“ auf sie ausgeübt. Dieser soll ihr in einem harschen Ton gesagt haben, ihre Aussage sei mit Anwälten abgesprochen gewesen, um den Angeklagten zu entlasten. Sie würde nur „Auswendig-Gelerntes“ erzählen. Er würde dafür sorgen, dass sie „in den Knast“ komme. Dabei soll sich der Polizeibeamte auch vor ihr aufgebaut und auf den Tisch gehauen haben. Vor diesem Hintergrund habe sie keine Aussicht auf Erfolg gesehen, ihre Aussage korrigieren zu lassen. Die betreffende Vernehmungsperson wird wohl noch zu diesen Vorwürfen gehört werden.

Es zeigt sich wiederholt: Die schon seit Jahren geforderte Einführung einer technischen Aufzeichnung der Vernehmung sollte vom Gesetzgeber zügig verwirklicht werden. Die Expertenkommission zur Reform der Strafprozessordnung hatte in ihrem 2015 vorgelegten Bericht vorgeschlagen, die audiovisuelle Aufzeichnung von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen jedenfalls bei schweren Tatvorwürfen oder bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage zum Regelfall zu erklären (S. 67 ff.). Bedauerlicherweise hat der darauf basierende Gesetzesentwurf der Bundesregierung diesen Aspekt in wesentlichen Punkten verwässert (S. 24 ff.). Eine (bewusst?) vertane Chance!

Im Mittelpunkt des weiteren Prozessverlaufs standen die Aussagen einer Ersthelferin sowie der beiden Zeugen, deren Wagen vom Auto des älteren Angeklagten erfasst wurden. Es waren emotional-bewegende Momente, die verdeutlicht haben, dass Menschen, die sich absolut regelkonform verhalten, von der einen Sekunde zur anderen zu Leidtragenden für das ganze Leben werden können. Dies gilt selbst für Unbeteiligte wie die erwähnte Ersthelferin, die ihre Aussage mehrmals schluchzend unterbrechen musste. Der zuerst vernommene Geschädigte schilderte, er könne kein Auto mehr mit seinen Kindern fahren; diesen Part übernehme nun seine Frau. Die Mutter der beiden verletzten Kinder (eines davon schwebte einige Zeit in Lebensgefahr) durchlebte unter Tränen nochmals ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung beim Unfall und in der Zeit danach. Die aufrichtige Entschuldigung des älteren Angeklagten nahmen beide zur Kenntnis; sie konnten sich aber nicht dazu durchringen, diese anzunehmen. Der jüngere Angeklagte entschuldigte sich nicht, was möglicherweise der Prozesstaktik geschuldet war. Er hatte allerdings nach dem Unfall Hilfe geleistet, was der Vater der beiden Kinder bestätigte.

Zum Schluss gab das Gericht bekannt, dass die Ehefrau des älteren Angeklagten in der kommenden Sitzung vernommen werden soll. Just hierzu kündigte die Verteidigung auch an, entsprechende ärztliche Unterlagen zur Erkrankung des gemeinsamen Sohnes sowie einen Verbindungsnachweis über das besagte Telefongespräch als Anlass für die schnelle Fahrt vorzulegen: Gerade diese beiden Punkte hatte ich bei der Einlassung des Angeklagten am ersten Verhandlungstag vermisst. Es werden wohl (für Außenstehende nicht leicht durchschaubare) prozesstaktische Erwägungen ausschlaggebend gewesen sein, diese Beweise erst jetzt und nicht schon zur Bekräftigung der eingangs erfolgten Darlegung der eigenen Sichtweise vom Unfallgeschehen vorzulegen. Die Hauptverhandlung wird am 12.06.2017 fortgesetzt.

 

Bild: Osman Isfen