Strafverfahren und Unschuldsvermutung – in kaum einem anderen Spannungsverhältnis knistert es mehr als in diesem. Dabei sieht es auf dem Papier zunächst alles so klar aus: Art. 6 II EMRK ordnet unmissverständlich an, dass jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig zu gelten hat. Auch im deutschen Strafprozess- und Verfassungsrecht ist dieser Grundsatz als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips allgemein anerkannt. Doch vor allem die sprachlichen Nuancen unterhalb einer ausdrücklichen Schuldzuweisung vor einem oder ohne einen Schuldspruch führen immer wieder zu bedenklichen Situationen in der Praxis, die auch Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung werden.
In einer aktuellen Entscheidung vom 8.3.2017 hat das Bundesverfassungsgericht nochmals die Bedeutung der Unschuldsvermutung im Strafverfahren hervorgehoben (2 BvR 2282/16). Zugegeben: Die Staatsanwaltschaft hatte es dem jugendlichen Beschuldigten äußerst leicht gemacht, ihre Einstellungsentscheidung mit einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde anzugreifen. Kurz zur Vorgeschichte: Dem Beschuldigten wurde zur Last gelegt, er habe zusammen mit einem gleichaltrigen Freund einen Stromkasten sowie zwei ummauerte Sitzbänke mit Farbe besprüht. Aufgrund der Beobachtungen eines Zeugen wurde der Beschwerdeführer in der Nähe des Tatortes von der Polizei angetroffen; der ihn begleitende Freund wies an den Fingernägeln entsprechende Farbspuren auf. Der Beschwerdeführer ließ über einen von seinem Vater beauftragten Rechtsanwalt den Tatvorwurf bestreiten. An dem fraglichen Ort seien unterschiedliche Gruppierungen von Jugendlichen unterwegs gewesen. Die Beschreibung des Zeugen treffe auf den Beschwerdeführer nicht zu. Zudem sei in rechtlicher Hinsicht der objektive Tatbestand einer Sachbeschädigung nicht erfüllt, weil die Tatobjekte bereits zuvor flächendeckend bemalt worden seien.
Die Staatsanwaltschaft stellte daraufhin das Verfahren nach § 45 Abs. 1 JGG (analog zu § 153 StPO=hypothetische Annahme einer geringen Schuld) ein und ließ diese Entscheidung dem Verteidiger mit folgendem Schreiben zukommen:
„Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt E.,
Ihr Mandant hat sich durch sein Verhalten einer Straftat schuldig gemacht, die normalerweise eine Anklageerhebung und eine Gerichtsverhandlung zur Folge hätte. Ausnahmsweise werde ich aber in diesem Fall von der weiteren Verfolgung absehen, weil mir sein Verschulden nicht groß erscheint.
Sein Verhalten wird jedoch ausdrücklich gerügt, und er wird eindringlich vor weiteren Verfehlungen gewarnt. Im Wiederholungsfall kann er mit einer solchen Beendigung des Verfahrens nicht rechnen …“
Es hat den Anschein, als ob die Strafverfolgungsbehörden es sich manchmal nicht verkneifen können, dem Beschuldigten oder (freigesprochenen) Angeklagten eine implizite Schuldzuweisung mit auf den Weg zu geben, wenn das Verfahren gegen sie eingestellt wird oder sie gar freigesprochen werden. Frei nach dem Motto: „Eigentlich gehörst du bestraft, aber mir sind von Rechts wegen die Hände gebunden oder ich lasse dich dieses Mal laufen“. Doch die Unschuldsvermutung lässt ein solche verdeckte Verurteilung nicht zu, sondern zwingt zu eindeutiger Haltung: Es gibt keine halbe Schuld oder Unschuld, und daran müssen sich die Behörden auch sprachlich halten.
Im vorliegenden Fall war der Ausgang der Verfassungsbeschwerde eigentlich schon von Beginn an vorgegeben: So betont das Bundesverfassungsgericht zwar, dass die Unschuldsvermutung es nicht ausschließe, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten und dies bei der Entscheidung über die kostenrechtlichen Folgen zu berücksichtigen: „Sie verbietet aber, gegen den Beschuldigten Maßregeln zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe oder strafähnlichen Sanktion gleichkommen, oder ihm in einer strafgerichtlichen Entscheidung Schuld zuzuweisen, ohne dass ihm in dem gesetzlich dafür vorgeschriebenen Verfahren strafrechtliche Schuld nachgewiesen worden ist“. Die Gerichte und Strafverfolgungsorgane sind daher im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Rang der Unschuldsvermutung gehalten, nur solche Formulierungen zu verwenden, die von vornherein jeden Anschein einer unzulässigen Schuldzuweisung vermeiden.
Nach diesen Maßstäben verstieß die dem Verteidiger des Beschwerdeführers mitgeteilte Begründung der Einstellungsverfügung gegen die Unschuldsvermutung: „Die Formulierung ‚Ihr Mandant hat sich durch sein Verhalten einer Straftat schuldig gemacht’, lässt sich nicht mehr als gebotene Beschreibung einer Verdachtslage verstehen. Auch wenn im zweiten Satzteil nicht ausdrücklich von einem Schuldspruch gesprochen wird, ist der Wortlaut der Formulierung ‚einer Straftat schuldig gemacht’ einer noch der Unschuldsvermutung Rechnung tragenden Beschreibung der Verdachtslage nicht zugänglich. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass im Folgesatz das ‚Verschulden’ des Beschwerdeführers als ‚nicht groß’ bewertet wird.“
Jenseits solcher offensichtlichen Verstöße gegen die Unschuldsvermutung bleiben andere Fallstricke in gerichtlichen und strafbehördlichen Entscheidungen heikel. So etwa, wenn in einem Urteil schon faktische Schuldfeststellungen über gesondert Verfolgte getroffen werden, die deren Position im nachfolgenden Verfahren massiv verschlechtern (dazu Isfen StV 2009, 611 ff. in einer von mir angestrengten Individualbeschwerde beim EGMR, die mit 2:5-Stimmen nicht angenommen wurde [hier Zusammenfassung auf Deutsch]). Ebenso problematisch sind Äußerungen von Strafverfolgungsbehörden, die noch vor dem Gerichtsverfahren getätigt werden und dem Beschuldigten eine Schuld zuweisen (dazu und zu weiteren Problemen in diesem Kontext siehe Entscheidung des EGMR in Fällen Minelli gegen Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 8660/79; Ribemont gegen Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 15175/89; Englert gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 10282/83; Nölkenbockhoff gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 10300/83; Lutz gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 9912/83; A.L. gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 72758/01; Khuznin u.a. gegen Russland, Individualbeschwerde Nr. 13470/02; Daktaras gegen Litauen, Urteil vom 10.10.2000, Individualbeschwerde Nr. 42095/98; Butkevicius gegen Litauen, Urteil vom 26.3.2002, Individualbeschwerde Nr. 48297/99).
Bild: lillysmum pixelio.de
Strafverfahren und Unschuldsvermutung – in kaum einem anderen Spannungsverhältnis knistert es mehr als in diesem. Dabei sieht es auf dem Papier zunächst alles so klar aus: Art. 6 II EMRK ordnet unmissverständlich an, dass jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig zu gelten hat. Auch im deutschen Strafprozess- und Verfassungsrecht ist dieser Grundsatz als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips allgemein anerkannt. Doch vor allem die sprachlichen Nuancen unterhalb einer ausdrücklichen Schuldzuweisung vor einem oder ohne einen Schuldspruch führen immer wieder zu bedenklichen Situationen in der Praxis, die auch Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung werden.
In einer aktuellen Entscheidung vom 8.3.2017 hat das Bundesverfassungsgericht nochmals die Bedeutung der Unschuldsvermutung im Strafverfahren hervorgehoben (2 BvR 2282/16). Zugegeben: Die Staatsanwaltschaft hatte es dem jugendlichen Beschuldigten äußerst leicht gemacht, ihre Einstellungsentscheidung mit einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde anzugreifen. Kurz zur Vorgeschichte: Dem Beschuldigten wurde zur Last gelegt, er habe zusammen mit einem gleichaltrigen Freund einen Stromkasten sowie zwei ummauerte Sitzbänke mit Farbe besprüht. Aufgrund der Beobachtungen eines Zeugen wurde der Beschwerdeführer in der Nähe des Tatortes von der Polizei angetroffen; der ihn begleitende Freund wies an den Fingernägeln entsprechende Farbspuren auf. Der Beschwerdeführer ließ über einen von seinem Vater beauftragten Rechtsanwalt den Tatvorwurf bestreiten. An dem fraglichen Ort seien unterschiedliche Gruppierungen von Jugendlichen unterwegs gewesen. Die Beschreibung des Zeugen treffe auf den Beschwerdeführer nicht zu. Zudem sei in rechtlicher Hinsicht der objektive Tatbestand einer Sachbeschädigung nicht erfüllt, weil die Tatobjekte bereits zuvor flächendeckend bemalt worden seien.
Die Staatsanwaltschaft stellte daraufhin das Verfahren nach § 45 Abs. 1 JGG (analog zu § 153 StPO=hypothetische Annahme einer geringen Schuld) ein und ließ diese Entscheidung dem Verteidiger mit folgendem Schreiben zukommen:
„Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt E.,
Ihr Mandant hat sich durch sein Verhalten einer Straftat schuldig gemacht, die normalerweise eine Anklageerhebung und eine Gerichtsverhandlung zur Folge hätte. Ausnahmsweise werde ich aber in diesem Fall von der weiteren Verfolgung absehen, weil mir sein Verschulden nicht groß erscheint.
Sein Verhalten wird jedoch ausdrücklich gerügt, und er wird eindringlich vor weiteren Verfehlungen gewarnt. Im Wiederholungsfall kann er mit einer solchen Beendigung des Verfahrens nicht rechnen …“
Es hat den Anschein, als ob die Strafverfolgungsbehörden es sich manchmal nicht verkneifen können, dem Beschuldigten oder (freigesprochenen) Angeklagten eine implizite Schuldzuweisung mit auf den Weg zu geben, wenn das Verfahren gegen sie eingestellt wird oder sie gar freigesprochen werden. Frei nach dem Motto: „Eigentlich gehörst du bestraft, aber mir sind von Rechts wegen die Hände gebunden oder ich lasse dich dieses Mal laufen“. Doch die Unschuldsvermutung lässt ein solche verdeckte Verurteilung nicht zu, sondern zwingt zu eindeutiger Haltung: Es gibt keine halbe Schuld oder Unschuld, und daran müssen sich die Behörden auch sprachlich halten.
Im vorliegenden Fall war der Ausgang der Verfassungsbeschwerde eigentlich schon von Beginn an vorgegeben: So betont das Bundesverfassungsgericht zwar, dass die Unschuldsvermutung es nicht ausschließe, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten und dies bei der Entscheidung über die kostenrechtlichen Folgen zu berücksichtigen: „Sie verbietet aber, gegen den Beschuldigten Maßregeln zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe oder strafähnlichen Sanktion gleichkommen, oder ihm in einer strafgerichtlichen Entscheidung Schuld zuzuweisen, ohne dass ihm in dem gesetzlich dafür vorgeschriebenen Verfahren strafrechtliche Schuld nachgewiesen worden ist“. Die Gerichte und Strafverfolgungsorgane sind daher im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Rang der Unschuldsvermutung gehalten, nur solche Formulierungen zu verwenden, die von vornherein jeden Anschein einer unzulässigen Schuldzuweisung vermeiden.
Nach diesen Maßstäben verstieß die dem Verteidiger des Beschwerdeführers mitgeteilte Begründung der Einstellungsverfügung gegen die Unschuldsvermutung: „Die Formulierung ‚Ihr Mandant hat sich durch sein Verhalten einer Straftat schuldig gemacht’, lässt sich nicht mehr als gebotene Beschreibung einer Verdachtslage verstehen. Auch wenn im zweiten Satzteil nicht ausdrücklich von einem Schuldspruch gesprochen wird, ist der Wortlaut der Formulierung ‚einer Straftat schuldig gemacht’ einer noch der Unschuldsvermutung Rechnung tragenden Beschreibung der Verdachtslage nicht zugänglich. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass im Folgesatz das ‚Verschulden’ des Beschwerdeführers als ‚nicht groß’ bewertet wird.“
Jenseits solcher offensichtlichen Verstöße gegen die Unschuldsvermutung bleiben andere Fallstricke in gerichtlichen und strafbehördlichen Entscheidungen heikel. So etwa, wenn in einem Urteil schon faktische Schuldfeststellungen über gesondert Verfolgte getroffen werden, die deren Position im nachfolgenden Verfahren massiv verschlechtern (dazu Isfen StV 2009, 611 ff. in einer von mir angestrengten Individualbeschwerde beim EGMR, die mit 2:5-Stimmen nicht angenommen wurde [hier Zusammenfassung auf Deutsch]). Ebenso problematisch sind Äußerungen von Strafverfolgungsbehörden, die noch vor dem Gerichtsverfahren getätigt werden und dem Beschuldigten eine Schuld zuweisen (dazu und zu weiteren Problemen in diesem Kontext siehe Entscheidung des EGMR in Fällen Minelli gegen Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 8660/79; Ribemont gegen Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 15175/89; Englert gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 10282/83; Nölkenbockhoff gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 10300/83; Lutz gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 9912/83; A.L. gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 72758/01; Khuznin u.a. gegen Russland, Individualbeschwerde Nr. 13470/02; Daktaras gegen Litauen, Urteil vom 10.10.2000, Individualbeschwerde Nr. 42095/98; Butkevicius gegen Litauen, Urteil vom 26.3.2002, Individualbeschwerde Nr. 48297/99).